Die Ästhetik des Widerstandes!
1. Die Sterne glänzen in aller Finsternis am schönsten. Gegen die Finsternis dieses Landes blitzen überall die Sterne.
2. Die Straßenkinder, welche in der Umgebung des Taksim-Platzes leben, fragen, wie lange der Widerstand noch halten wird. Durch den Zusammenhalt des Widerstandes hätten sie etwas zu Essen bekommen. Die Regierung, sich darum sorgend ob in der Nähe der Moscheen Alkohol konsumiert wird, sorgt sich jedoch mitnichten darob, ob in der Nähe der Moscheen Menschen verhungern.
3. Historische Ereignisse haften aufgrund ihrer bleibenden Eigenschaft im Gedächtnis. Das Leben welches innerhalb zweier Wochen am Taksim entstand, sät die Samen einer Utopie in den Boden seines Gravitationsraums.
4. Alle sind zusammen, jeder ist frei. Niemand drängt jemanden was auf, und jeder trägt seine eigene Farbe ganz frei. Während die anti-kapitalistischen Moslems beten, bewachen die Atheisten sie vor Angriffen. Die Kurden tanzen, und die Aleviten vollziehen ihren rituellen Tanz, während die Türken ihre Hymne singen. Die Sozialisten, die LGBT, Çarşı (Besiktas), Fener (Fenerbahçe), Cimbom (Galatasaray) arbeiten, feiern und schützen einander. Die Freiheit eines jeden Individuums wird zur Freiheit aller.
5. Niemand ist benachteiligt, jeder ist gleichberechtigt. Alle bringen ihre individuellen Bedürfnisse übersteigend mit, und jeder nimmt nur nach seinem tatsächlichen Bedarf. Es gibt kein Geld, keinen Besitz – und es gibt auch keine Hungernden.
6. Wir machen eine staatsfreie Erfahrung im Gezi-Park. Es ist ein Geschenk des Lebens, Zeuge einer Glückseligkeit und eines Anstands in Absenz eines staatlichen Korsetts zu werden.
7. Zum ersten Mal in unserer Geschichte treten Satire und Frohsinn als Sprache eines Widerstandes auf. Während die bisherigen Bewegungen der Dissidenten, den Tod in Kauf nehmend, auf die härteste Art und Weise gekämpft haben, kämpfen wir jetzt in einer heiteren und kreativen Sprachlichkeit, die nicht nur uns zum Ausdruck bringt, sondern auch das Gewicht der schneidenden Sprache überwindet.
8. Der Staat kann die unerbittlichen Kämpfer besiegen. Aber er hat kein Gewehr welches den Humor und die Munterkeit besiegen könnte. Deshalb ist er verzweifelt, und ihre Lügen helfen nicht.
9. Die Pariser Kommune dauerte 72 Tage. Wir haben dieselben Prinzipien mit Begeisterung ins Leben gerufen. Als die Kommune mit Gewalt niedergeworfen wurde, stritten die Liberalen und die Aufgeklärten der Bourgeoisie über deren Widersprüche, Schwächen und Fehler. Der gegen deren Theoretisierungen gewandte Marx, zeigte auf ihren tieferen Wesensgehalt für die Zukunft hin: In der Kommune wurde die Überwindung des privat-individualistischen Eigentums und der Ausbeutung eingeläutet, es hat sich unmittelbar die Tür der Demokratie geöffnet.
10. Seyh Bedrettin hat uns zwei Erbstücke hinterlassen. Erstens beteiligte er sich auf Seiten des rebellierenden Volkes. Zweitens glaubte er, dass jeder gleichberechtigt und in kollektiver Gemeinschaftlichkeit leben könne. Die “Utopia” des Thomas Morus und der “Hay ibn Yaqdan” Ibn Tufails platzierten sich in den selben Menschheitstraum. Wir tragen nun diesen Traum weiter.
11. Wir verweisen die Menschen in dem wir mit unserem Finger auf etwas Schönes hinzeigen. Aber die Macht und ihre Sprecher schauen nicht auf den Skopus, den Punkt auf den wir hinweisen, sondern auf unsere Finger und verleumden uns. Uns im öffentlichen Diskurs gegeneinander aufhetzen wollend, wollen sie uns auseinanderdividieren und schwächen. Wir aber betonen mit Nachdruck: Schaut nicht auf unsere Finger, sondern vielmehr unseren Fingerzeig, auf den Punkt auf den wir hinweisen. Dort werdet ihr die Bäume und die Meere sehen!
12. Wir lieben das Rote, und beschützen das Grüne. Jugendliche, welch solche Sätze auf die Wände schrieben, benannten eine Autobus-Station, in sichtlicher Motivation damit die toten Dichter zu ehren, in: “Die Station des Blickes zum Himmel”.
13. Wir empfinden eine große Dankbarkeit den Jugendlichen gegenüber. Sie sind in jenem Momente herbeigeeilt, die Menschheit am Rande des Abgrunds rettend. Jene die glaubten dass diese egoistisch und unwissend seien, haben sich getäuscht. Nicht nur, dass die Jugendlichen den elf in Gümüssuyu gebildeten Barrikaden ihre einzelnen Namen gegeben haben, sie habe auch Abdullah Cömerts Name, den wir letzte Woche verloren haben, auf eine Barrikade geschrieben. Danach haben sie, die letzte Barrikade, in der Nähe des Meeres gelegen, mit großen Buchstaben Deniz (auf deutsch Meer) Gezmis benannt, was ein noch weiteres Mal ihre Erhabenheit unter Beweis stellte.
14. Das Volk ist in seiner Einsamkeit nichts, aber in seiner Vereinigung Alles. Wenn wir nicht das nehmen was wir wollen, werden die Steuer-Lobbys unsere Stadt und unser Leben verwüsten. Für sie besteht die Geschichte aus bornierten Profanitäten, aus wie man sagt „Kelch und Schüssel“, oder aus Renditen, denn sie glauben an nichts anderes als Geld.
15. Sie wollen uns durstig und ohne Bäume, wie in Kerbela. Wir wissen, dass sie als sie um Kerbela geweint haben, sich an einen Tisch mit Yezid gesetzt haben. Deswegen verteidigen wir gegen die Wüste das Wasser und den Baum, und gegen den Tod das Leben.
16. Sie sprechen davon, das Gemeingut würde beschädigt. Ist denn aber nicht vielmehr die Abschaffung des Gezi-Parks die real statthabende Beschädigung des Gemeinguts? Auf die friedlichste Art nutzen und beschützen wir das Gemeingut, und sagen darin eigentlich wir: Demoliert nicht das Gemeingut!
17. Hier geht es nicht allein nur darum etwas nicht zu wollen, sondern etwas auf eine andere Art zu wollen. Hier geht es um den Diskurs der Solidarität und des Zusammenhalts. Allein diese Begeisterung und Energie hat diesem Land einen Wert hinzugefügt, der sich in keinem Börsenindex berechnen lässt. Allein dies reicht, um diesen Platz SIT (ein u.a. aus geologischen, historischen, kulturelleren Gründen geschützter Platz) zu nennen.
18. Der Mensch ist kein Konsument. Um das nicht zu vergessen müssen wir unserem Erfolg Nachhaltigkeit geben. Wir können beginnend mit dem 31. Mai Festlichkeiten der Brüderlichkeit und der Solidarität veranstalten. Eine Freiheitsfeier, in der jedeR in seiner eigenen Farbe kommt, in einer gleichberechtigten Welt in der das Geld seine Ungültigkeit erfährt. Jeder kommt dann mit Gütern und Sachen die über seine eigenen Bedürfnisse hinaus gehen, und jeder nimmt für sich dann was er seinen Bedürfnissen entsprechend braucht. Dies ist die Sehnsucht des Volkes – und die Angst des Kapitals.
19. Einst sagte ein Dichter “In der Volkszählung muss man auch die Toten berücksichtigen”. Wir eignen uns diese Stadt und unsere Zukunft auch für unsere schönen Menschen der Vergangenheit an.
20. Die Jugendlichen haben das Schönste an die Wände geschrieben: “Auch wenn wir verlieren, bleibt der Geschmack der Rebellion in unserem Gaumen.”
21. Wir haben viel gelernt, wir haben alle Weisen des historischen Widerstands und alle unsere Träume mit einer neuen Sprache übersetzt. Wir haben unsere Vergangenheit ins Reine geschrieben.
22. Hoffnungen, Träume, Utopie! Und hey, Rebellion! Es ist wie jenes Gedicht, das ein Jugendlicher auf dem großen Platz vorgelesen hat: “Wir haben alle unsere Liebschaften in dir ins Reine gebracht.”
Burhan Sönmez
BirGün, 13/06/2013