Neue Zürcher Zeitung: Mario Levi über die türkische protestbewegung hört auf die stimme des Gezi-Parks

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Obwohl die türkische Regierung den Demonstranten im Gezi-Park mit Gewalt und Diffamierung begegnet, setzen die friedlichen Besetzer ihre Manifestationen fort. Der türkische Schriftsteller Mario Levi schöpft daraus Hoffnung für die Zukunft seines Landes.
Mario Levi

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?

Ich hätte nicht gedacht, dass der Titel dieses Romans, der inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist, sich auf eine andere Epoche der Istanbuler Geschichte beziehen könnte als auf die, von der er eben handelt. Zumindest damals hätte ich das nicht gedacht, als ich den Roman schrieb. Da wollte ich vom rebellischen Geist der siebziger Jahre erzählen, von der Zeit vor und nach dem Militärputsch des Jahres 1980 und von dessen Auswirkungen bis in die Anfänge des 21. Jahrhunderts hinein. Es waren dies nämlich Tage gewesen, die es lohnten, erzählt und hinterfragt zu werden. Weil viele Menschen damals einen hohen Preis hatten zahlen müssen. Und weil ich sah, dass uns im neuen Jahrhundert zahlreiche Werte abhandenkamen. Und ich mir Sorgen machte, damit könnte es noch weitergehen und allmählich würden wir gar nicht mehr bemerken, dass es überhaupt Verluste waren.

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?

Mit Töpfen und Pfannen

Die Grundstimmung, die in meinem Istanbul vorherrschte, war eine melancholische. Zu all dem Schlimmen, das bereits eingetreten war, würde noch so manches hinzukommen. Wobei dies – zugegebenermassen – für einen Schriftsteller eine Quelle der Inspiration ist. Wenn aber das Geschehen so schwer auf dem Menschen lastet, dass er darunter zusammenbricht . . .

Wo war ihr, als die Finsternis hereinbrach?

Ganz unerwartet, stellte jene Frage sich mir aufs Neue, als in diesem Frühjahr, in der Nacht des 31. Mai, eine ganz neue Geschichte einsetzte. Die tiefe Nacht war dem Vorhaben günstig. Zwar wohne ich in einem historischen Stadtviertel, doch wurde mir nicht gleich bewusst, dass eine historische Wende nahte. Ich wachte also auf und horchte, noch schlaftrunken, auf ein seltsames Lärmen, das von der Strasse heraufhallte. Ein Trommeln, dachte ich zunächst, aber das war es nicht. Ein Fest? Was sollte zu dieser Stunde gefeiert werden?

Als ich aus dem Fenster blickte, begriff ich auf einmal. An die zwei Dutzend Menschen jeglichen Alters schlugen mit Löffeln auf Töpfe und Pfannen ein. Natürlich wusste ich, dass die Polizei im Gezi-Park durchgegriffen und die jungen Leute, die sich dort seit Tagen aufgehalten hatten, mit Tränengas vertrieben und ihre Zelte zerstört hatte. Nun war mir klar, dass das Geschehen dort unten eine Protestaktion war. Dass die Bewegung dann aber derart anwachsen, dass Gruppe sich zu Gruppe gesellen und schliesslich eine grosse Einheit entstehen würde, das hätte ich mir, ehrlich gesagt, nicht träumen lassen.

Eine neue Türkei

Was man für unmöglich gehalten hatte, das war tatsächlich eingetreten, und in den folgenden Tagen wurde immer deutlicher, dass man es in der Türkei zum ersten Mal mit einer wahrhaftigen Volksbewegung zu tun hatte, die von keiner Partei, von keinerlei politischen Organisation gesteuert war. Der Strömung schloss sich ganz von alleine an, wer sein Leben selbst bestimmen und sich nicht länger bevormunden lassen wollte. Die Menschen sagten sich: Ich muss das selbst in die Hand nehmen. Genau das verdient allerhöchste Beachtung. Eine Art Aufstand ist das schon, aber eben keiner, der darauf abzielt, die Regierung zu stürzen und selbst an die Macht zu gelangen. Es geht nur darum, Nein zu sagen und seine Stimme vernehmen zu lassen. Die Bühne wird von Menschen betreten, die in den achtziger und neunziger Jahren geboren sind und den rebellischen Geist der siebziger Jahre nur vom Hörensagen kennen. Sie sind weder organisiert noch bewaffnet. Ihre einzigen Waffen sind ihr Mut und ihre Aufrichtigkeit. Ich habe ja mein Land schon von jeher geliebt, aber nun liebe ich es noch mehr.

So bin ich durchaus versucht, diese jungen Menschen als die neue Türkei zu bezeichnen, und zwar nicht nur, weil sie unerschrocken für ihre Rechte eintreten und uns wieder lehren, uns aufzulehnen, sondern vor allem auch, weil sie dies voller Humor tun. Und was fällt ihnen nicht alles ein! Die Geschichte lehrt, dass dem Humor keine Macht zu widerstehen weiss. Zahllose Beispiele gibt es dafür. Chaplin, Kafka, Kraus, Lichtenberg oder Tucholsky wären da etwa zu nennen, und aus hiesigen Gefilden der Eulenspiegel Nasreddin Hoca oder der Dichter Can Yücel.

In meinem Herzen erwuchs der Stadt auf einmal eine neue Identität. Plötzlich hatten Menschen wieder den Mut, sich zu wehren. Das versuchte ich auch Claudia Roth und deutschen Fernsehteams zu erläutern, während draussen vor dem Café in der Nähe des Taksim-Platzes Tränengasschwaden hingen.

Keinesfalls aber soll der Eindruck erweckt werden, ich hätte für eine andere Sichtweise der Dinge kein Verständnis, denn damit würde ich mich selbst verleugnen. Selbstverständlich gibt es Menschen, die von dem, was da passiert, beunruhigt sind, und manche versteifen sich darauf, die Geschehnisse nicht begreifen zu wollen, sie als Bedrohung anzusehen und sie schlechtzumachen. Nun, ein jeder muss selbst wissen, wie er sich zu der Sache stellt. Mir aber geht es darum, über diese unterschiedlichen Sichtweisen hinaus die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. In den sozialen Netzwerken bemühe ich mich nach Kräften, diesen Geist der Gemeinsamkeit hochzuhalten, und auch gegenüber türkischen und ausländischen Presseorganen äussere ich mich in diesem Sinne. Stets betone ich dabei, dass ich strikt gegen Gewalt bin, da die Bewegung durch den Einsatz von Gewalt ihre Unschuld einbüssen würde. Gewalt ist ein Fehler, der stellenweise leider schon begangen wurde. Dass fünf junge Leute ums Leben gekommen sind und es zahlreiche Verletzte gab, muss uns daher zutiefst betrüben. Es käme mir nicht in den Sinn, mich mit gewaltbereiten Gruppen in irgendeiner Weise zu solidarisieren, doch zugleich wäre es nicht nur eine Ungerechtigkeit, sondern, vornehm ausgedrückt, ein Fall von politischer Blindheit, wollte man diese vereinzelten Ausrutscher mit dem Verhalten der grossen Masse der Demonstranten einfach gleichsetzen.

Mir ist nun völlig klar, dass durch die Gezi-Park-Bewegung in der Geschichte unserer Stadt ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde, und ich bin glücklich, daran teilhaben zu dürfen. Wir erleben, ganz ohne Übertreibung, nichts anderes als eine historische Wende.

Was hier passiert, hat so manchem die Augen darüber geöffnet, was gemeinsam alles zu erreichen ist. Ich glaube von ganzem Herzen, dass sich auf der Basis dieses Gemeinschaftsgeistes eine neue Türkei aufbauen lässt, und zwar unter dem Dach einer völlig neuen politischen Organisation, an der sowohl laizistische als auch religiöse Kräfte, Türken und Kurden, Sunniten und Aleviten sowie sämtliche ethnischen und sonstigen Minderheiten teilhaben sollen. Eine Türkei, in der die Menschen sich nicht gegenseitig ausgrenzen, sondern einander zum Zusammenleben auffordern.

Wegbereitende Erfahrung

Eile ist dabei nicht geboten. Ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess braucht nun mal seine Zeit. Den Weg weisen können uns etwa die nun im Ramadan als eine Art Picknick veranstalteten Mahlzeiten zum Fastenbrechen, an denen nicht nur Muslime, sondern auch Christen, Juden und sogar Atheisten teilnehmen. Wegbereiter kann überhaupt die ganze Erfahrung der Gezi-Bewegung sein. Ein Traum? Mag sein. Ich weiss aber sehr wohl, dass unsere Wirklichkeit sich aus Träumen aufbaut. Diese Ansicht habe ich schon vor diesen Ereignissen vertreten, und nun erscheint sie mir plausibler denn je.

Das Istanbul, von dem mir der Gezi-Park kündet, ist eine Stadt, die zu lachen versteht oder zumindest das Bedürfnis danach verspürt.

Stärker denn je ist mir bewusst, dass sich in Istanbul Historisches tut.

Wo wir waren, als die Finsternis hereinbrach?

In Istanbul waren wir. Und wir fühlten, dass es in uns licht und hell wurde.

Wir schrieben nämlich Geschichte.

Mario Levi wurde 1957 als Sohn jüdischer Eltern in Istanbul geboren. Neben seiner Arbeit als Schriftsteller lehrt er an der Yeditepe-Universität Kommunikationswissenschaften und kreatives Schreiben. In deutscher Übersetzung liegen seine Romane «Istanbul war ein Märchen» und «Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach?» vor. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.

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