FrankfurterRundschau: Das Ende der Osmanischen Gärten von Frank Nordhausen

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Yedikule, die Burg der sieben Türme, heißt dieser Abschnitt des byzantinischen Steinwalls Istanbuls. Foto: imago stock&people

Die ungezügelte Bauwut und die Gier nach großen Gewinnen macht in Istanbul vor keiner historischen Kostbarkeit halt. Aber seit der Erfahrung am Taksim-Platz wehren sich die Bürger.

Den schönsten Blick auf die Osmanischen Gärten in Istanbul hat man von der alten byzantinischen Stadtmauer. Man schaut hinunter in eine uralte Vergangenheit, die bis heute lebendig und intakt ist: Gärtner pflanzen hier mitten in der 15-Milllionen-Metropole Tomaten, Gurken und Salat an und ernten die Früchte der alten Feigenbäume. Aus den Steinbrunnen aus osmanischer Zeit fließt Wasser durch ein traditionelles Schachbrettmuster aus Gemüsebeeten. „Das System ist älter als 1500 Jahre. Diese Kontinuität ist einzigartig in Europa“, sagt der Historiker Günhan Börekci von der Istanbul-Universität. „Die Osmanischen Gärten sind eine der wenigen urbanen Agrarlandschaften innerhalb alter Stadtmauern und gehören zum Unesco-Weltkulturerbe. Und jetzt sehen Sie mal, wie die Stadt Istanbul mit diesem Erbe der Menschheit umgeht.“

Es ist Mitte Juli, Günhan Börekci steht vor der Innenseite des Steinwalls aus dem 5. Jahrhundert und dreht sich um. Vor ihm erstreckt sich nun eine riesige leere Fläche, auf der Bagger Bauschutt verteilen, bis hin zum Zaun, hinter dem die Stadt ist. Manchmal haben die Maschinen einen Baum stehen gelassen, der wie verloren aus dem Trümmerfeld ragt. „Seit dem byzantinischen Kaiser Theodosius II. wurde hier Gemüse und Obst angebaut“, sagt der rundliche 42-Jährige. „Das alles wurde an wenigen Tagen vernichtet. Kein einziger Archäologe war zugegen, obwohl man hier nur an der Erde kratzen muss, um auf römische Artefakte zu stoßen.“

Proteste in verschiedenen Teilen Istanbuls

Die Dämmerung wirft ihre Schatten. Immer mehr Menschen, die im konservativen Stadtteil Fatih durch ihre Kleidung oder Haartracht auffallen, kommen die Stadtmauer entlang gelaufen – einige mit T-Shirts, auf denen „Widerstand Gezi-Park“ steht. „Wir haben dazu eingeladen, heute Abend in Yedikule das Fastenbrechen zu begehen“, sagt Günhan Börekci. Seit der Gezi-Park im Juni geräumt wurde, findet der Protest in verschiedenen Teilen Istanbuls statt, aber das Treffen in Yedikule, weitab auf der anderen Seite des Goldenen Horns, ist etwas ganz Besonderes. Yedikule, sieben Türme, heißt dieser Abschnitt des byzantinischen Steinwalls, weil hier sieben Türme ein einzigartiges Ensemble innerhalb der Festungsanlage bilden. „Es geht darum, ein Zeichen zu setzen, dass nicht nur die Stadtmitte uns bewegt“, sagt der Wissenschaftler.

In der äußersten Ecke am Zaun, wo die Baumaschinen einen Garten stehen ließen, strömen die jungen Leute zusammen, rund hundert mögen es sein, sie breiten Decken auf einem Acker aus, haben Börek und Baklava, Wasser und Limonade mitgebracht. Drei graubärtige, von der Sonne gegerbte Gartenarbeiter sitzen unter einem Wellblechdach und weisen Neuankömmlingen den Weg durch die Walnussbäume zum Acker. Während es dunkelt, leuchtet das Fernsehteam eines kleinen türkischen TV-Senders die Szene aus, die Kamera auf Börekci gerichtet. „Im Gezi-Park sollen einige Bäume für die Rekonstruktion einer Osmanischen Kaserne gefällt werden, und hier wird ein bedeutender Teil osmanischer Geschichte einfach eingeebnet“, sagt er. „In Wahrheit geht es immer um Immobilienspekulation, nicht um Geschichte.“

Dass die Marktgärten von Yedikule, Bostanlar auf Türkisch, überhaupt jemanden aufregen, ist im Wesentlichen einem anderen Historiker zu verdanken. Der schlaksige Aleksandar Sopov stammt aus Mazedonien, ist Doktorand der Agrargeschichte an der amerikanischen Harvard-Universität und schreibt seit fünf Jahren über die Osmanischen Gärten in Istanbul. Der 32-jährige hat in den berühmten Osmanischen Archiven der Stadt Dokumente ausgegraben, die ihren einzigartigen historischen Wert belegen. „Es gab hier im 18. Jahrhundert 344 Gärten, 1300 Menschen arbeiteten darin und versorgten ganz Konstantinopel mit Obst und Gemüse“, erläutert er. Es war am Morgen des 9. Juli, als er mit eigenen Augen sah, wie die Bagger alles niederwalzten. „Das hätte ich nie für möglich gehalten“, sagt er.

Dokumente von 1733 belegen die Geschichte

Jetzt hält Sopov eine Papyruskopie mit arabischer Schrift in der Hand. „Diese Dokumente von 1733 beweisen, dass genau die Obstgärten, die gerade zerstört werden, den Großwesiren Ismail Pascha und Bayram Pascha in der Zeit Sultan Selim III. und Sultan Mahmut IV. gehörten“, sagt Sopov. Er kann viel erzählen über die Geschichte der Gartenlandschaft, die der französische Philosoph Voltaire einst als „Paradies“ besang und in denen uralte landwirtschaftliche Methoden von Generation zu Generation weitergegeben wurden.

„Albaner, Mazedonier, Armenier, zuletzt Türken vom Schwarzen Meer haben hier das Land bestellt“, sagt Sopov. „Ihre Kunden wohnen hier in der Nachbarschaft. Diese Bauern sind hoch professionell, ihr Obst und Gemüse ist besser als alles, was man im Supermarkt bekommt. Ihr Ende ist nicht nur ein unersetzlicher Verlust, denn damit gehen wertvolle Informationen über eine jahrhundertelange agrartechnische Entwicklung verloren.“

Etwa zehn Familien und mehr als 50 Menschen lebten von der jetzt zerstörten Gartenanlage. Zu ihnen gehört Kezban Eryilmaz, ein korpulenter Mann mit mächtigem Schnurrbart. Der 44-Jährige hat mit ansehen müssen, wie die Baumaschinen seine Beete zuschütteten. Er weint, als er aufsteht und den jungen Leuten davon erzählt. „Ich habe die Arbeiter angefleht: Zerstört die Gärten nicht! Das ist mein Leben!“ Zehn Jahre lang haben Eryilmaz und seine Frau an der alten Stadtmauer Obst und Gemüse angebaut, auch seine vier Kinder haben mit angepackt. Als die Bagger schon auf sie zurollten, haben sie noch fieberhaft Gurken, Tomaten und Pfefferschoten gepflückt. Jetzt steht die Familie vor dem Nichts. Wohin sie gehen sollen, weiß Kezban Eryilmaz nicht. Und jenseits der Mauer, wo die Osmanischen Gärten noch intakt sind, fürchten jetzt weitere Familien, demnächst vertrieben zu werden.

Spontane Bürgerinitiative

Aleksandar Sopov bildete an jenem Tag spontan eine Bürgerinitiative mit Architekten, Historikern, Ökologen und Stadtplanern, der sich bis heute rund 50 Leute anschlossen. „Das war eine ganz neue Erfahrung“, sagt der Doktorand. Es ist nämlich gerade vier Jahre her, als er hilflos mitansah, wie das erste Mal die historische Gärten einer Luxuswohnanlage weichen mussten. „Niemand hat sich damals aufgeregt, denn die meisten Leute im Stadtviertel kennen die historischen Hintergründe nicht, weil sie zugewandert sind.“ Die Menschen in Fatih wählen die konservativ-islamische Regierungspartei AKP des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der gern und oft die osmanische Vergangenheit der Türkei preist. Banale Realität ist jedoch ein brutaler, gedankenloser Umgang mit dem osmanischen Erbe. „Wahrscheinlich geht es in Wahrheit vor allem darum, einen Park für die neue Luxuswohnanlage zu schaffen, um die Verkaufspreise in die Höhe zu treiben“, meint Aleksandar Sopov.

Es wäre kein Ausnahmefall. So räumten die Behörden 2009 ebenfalls an der alten Stadtmauer in Fatih gegen den erbitterten Widerstand der Bewohner das älteste Roma-Viertel der Welt Sulukule ab, um eine „Gated Community“ im neo-osmanischen Stil zu bauen. Seit zwei Monaten wird das heruntergekommene Gründerzeitviertel Tarlabasi großflächig niedergerissen, nur fünf Gehminuten vom Taksim-Platz entfernt; Amnesty International spricht von „brutalen Zwangsräumungen, die eine ganze Reihe gefährdeter Familien praktisch obdachlos gemacht haben“.

Aber es hat sich etwas in der Türkei geändert, und das hat mit der Gezi-Bewegung zu tun. Als ob die Menschen aus einer Art Narkose erwacht wären, entstehen überall im Land Bürgerinitiativen, um sich gegen Bauprojekte zu wenden, die als unsozial oder umweltschädlich empfunden werden. In Istanbul kämpfen solche Gruppen inzwischen an vielen Orten – gegen die geplante Vernichtung von Gemüsegärten im Viertel Kusguncuk, gegen die Abholzung riesiger Waldgebiete für einen neuen Flughafen und die dritte Bosporusbrücke, und nun auch gegen die Zerstörung der Osmanischen Gärten von Yedikule. „Weil die Regierung versucht, aus Istanbuls Immobilien den größtmöglichen Profit zu schlagen, provoziert sie die Wut der Bürger, die offenbar der Ansicht sind, dass auch eine andere Art von Stadtentwicklung möglich ist“, schrieb der bekannte Kolumnist Mustafa Sönmez in der Hürriyet.

Während es bei anderen Debatten über die Istanbuler Stadtentwicklung um Abriss oder Abholzung geht, ist die Lage in Yedikule jedoch komplizierter. Die Stadtverwaltung von Fatih plant an der Stadtmauer einen 85 000 Quadratmeter großen Park mit Zierteichen, Cafés und Kinderspielplätzen; zirka ein Drittel des Geländes überbaut die zerstörten Gärten. Eine 40-jährige Anwohnerin, die am Abend leidenschaftlich mit den Gezi-Leuten diskutiert, sagt erregt: „Ihr wohnt hier nicht. Aber wir brauchen das Grün. Unsere Kinder sollen irgendwo spielen können, wo es sicher ist und sich abends nicht Alkoholiker, Halunken und Prostituierte herumtreiben.“

Für die Stadt wäre es ein Leichtes, mit Polizeistreifen und hellen Laternen für mehr Sicherheit zu sorgen, antwortet ihr die Stadtteilabgeordnete und Architekturprofessorin Gülay Yedekci Arslan von der kemalistischen Oppositionspartei CHP. „Wir wollen auch ein Erholungsgelände – aber unter Einbeziehung der historischen Gärten“, sagt sie. „Dann könnten Schulkinder hier etwas über Landwirtschaft lernen. Doch das wurde nie diskutiert!“ Mit dem geplanten Park würden die Mieten und Grundstückspreise in der Gegend steigen, was die Anwohner im angrenzenden Arbeiterviertel existentiell bedrohe, warnt die junge Volksvertreterin. „Ich bin Mitglied der Bezirkskommission zu Fragen der Historischen Halbinsel. Dort haben wir am 1. Juli erstmals erfahren, dass die Stadt einen Park an der alten Stadtmauer plant. Am 3. Juli haben wir in Fatih darüber beraten. Am 5. Juli war Abstimmung, in der uns die AKP überstimmte, und am 6. Juli kamen die Bagger.“

“Wir wissen nichts von historischen Gärten”

Am 10. Juli trafen sich Vertreter der neuen Bürgerinitative mit den Stadtoberen im Rathaus. Die Historiker schlugen vor, die Felder doch als eine Art „Themenpark“ für osmanische Agrargeschichte zu nutzen und in den Park einzubeziehen. Vergeblich. „Ich dachte wirklich, die AKP würde begreifen, dass die Gärten der Großwesire wichtige historische Räume sind, aber sie verdoppelten nur das Tempo der Abrissarbeiten“, sagt Aleksandar Sopov. Der Vizebürgermeister habe sogar erklärt: „Wir wissen nichts von historischen Gärten.“

„Eine schwer überbietbare Ignoranz“, nennt das Professor Günhan Börekci. Denn die Istanbuler Stadtverwaltung hatte im Oktober 2011 einen neuen Bebauungsplan für die historische Halbinsel beschlossen, in dem die Osmanischen Gärten ausdrücklich als denkmalgeschütztes Areal von jeglicher Bebauung ausgeschlossen wurden. „Solche Projekte beginnen fast immer im Geheimen“, sagt Börekci, „die Regierung überrascht die Öffentlichkeit mit fertigen Plänen und lässt dann über Nacht die Bagger auffahre.“

Börekci, Sopov und ihre Mitstreiter in der Bürgerinitiative stießen darauf, dass die Stadt Istanbul das Gelände bereits 2006 als „Erneuerungsgebiet“ der Zentralverwaltung in Ankara unterstellte und damit begann, die Grundstücke an der Stadtmauer von den Eigentümern, armenischen und griechischen Stiftungen, aufzukaufen. Die Gemüsegärtner waren stets nur Pächter. Über die Landverkäufe drang bis zuletzt nichts in die Öffentlichkeit, ebenso wenig wie über die Planung des Parks, dessen Risszeichnungen die Stadtverwaltung Anfang Juli plötzlich auf metergroßen Plastikplanen am Zaun um die Gärten aushängen ließ. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung, die das Gesetz eigentlich vorsieht, gab es nicht. Die Verordnungen zum Schutz der Istanbuler Weltkulturerbestätten, die den Richtlinien der Unesco folgen, wurden wie andere Vorschriften beiseite gewischt. Und eine Anfrage der Frankfurter Rundschau an die Stadtverwaltung von Fatih mit der Bitte um einen Gesprächstermin blieb unbeantwortet.

Wieso die Heimlichtuerei? Schon 2009, als die benachbarte Luxuswohnanlage ohne Baugenehmigung errichtet wurde, fand die Oppositionspartei CHP im Stadtrat von Fatih heraus, dass Gelände und Immobilienfirma dem AKP-Gründungsmitglied und heutigem Stadtentwicklungsminister Erdogan Bayraktar gehörten. Kurz bevor Bayraktar 2011 ins Parlament gewählt wurde, soll er alles an einen Parteigenossen veräußert haben. Im neuen Bebauungsplan, der im April 2012 rechtskräftig wurde, war die Wohnanlage dann plötzlich eingefügt und wurde dadurch faktisch nachträglich „legalisiert“.

Klage gegen das Planwerk

Die AKP-kritische Architektenkammer hat gegen das Planwerk eine Klage eingereicht, über die bisher nicht entschieden wurde. Weil eben dieser Bebauungsplan von 2012 keinen Park auf den Gelände der Osmanischen Gärten vorsieht, glauben die Aktivisten zwar an einen möglichen Erfolg vor Gericht, doch wurde die Freizeitanlage inzwischen nicht nur von der Baukommission des Stadtbezirks Fatih, sondern auch von einer neuen städtischen „Erneuerungskommission“ gebilligt, von der niemand zuvor gehört hatte. „So läuft das in der Türkei: Wenn rechtliche Probleme auftauchen, wird einfach eine neue Superkommission gegründet, die den Spielraum erweitert und die früheren Entscheidungen aufhebt“, sagt Börekci.

Doch die Yedikule-Aktivisten wollen sich nicht geschlagen geben und berufen sich auf die bestehenden Gesetze. Zwar haben die türkischen Mainstream-Medien das Thema bisher nicht aufgegriffen, aber schon die wenigen Berichte in der oppositionellen Presse haben den Ton der Auseinandersetzung deutlich härter werden lassen. Der Harvard-Historiker Sopov bekam Morddrohungen, andere Aktivisten wurden körperlich attackiert, als sie auf dem planierten Gelände Fotos machten. „Haut ab, sonst geht es euch schlecht“, riefen bullige Angreifer, als Sopov vergangene Woche eine Gruppe Studenten über das Gelände führte.

Mit Hilfe der Bürgerinitiative hat nun einer der Gemüsebauern von Yedikule Klage gegen die Stadt Istanbul erhoben, weil sie sein Grundstück planieren ließ, obwohl er regulär Pacht dafür bezahlte. Er fordert die völlige Wiederherstellung seiner Felder. Doch ein Prozess, um die Rechtswidrigkeit einer türkischen Behördenhandlung festzustellen, kann Jahre dauern.

Die Unesco hat bisher nicht auf die verzweifelten Anfragen der Aktivisten reagiert. Auch deshalb klingt Aleksandar Sopov nicht sehr optimistisch, als er sagt: „Wir müssen fürchten, dass man in der Zwischenzeit Fakten schafft und den Park baut, obwohl es illegal wäre. Und dann werden alle sagen, jetzt kann man es nicht mehr rückgängig machen. Dabei wäre es momentan noch möglich,einen Kompromiss zu finden und das historische Erbe Istanbuls zu bewahren.“

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