Junge Welt: Tausende gegen Erdogan – Nick Brauns

Türkei: Massenproteste nach Beerdigung von 15jährigem Polizeiopfer. Regierungschef bedauert nur Kursstürze an der Börse. Zwei weitere Tote bei Auseinandersetzungen

Mit aller Polizeigewalt: Zahlreiche Demonstranten erlitten Verletzungen Foto: Tolga Bozoglu/EPA/dpa-Bildfunk

Mit aller Polizeigewalt: Zahlreiche Demonstranten erlitten Verletzungen
Foto: Tolga Bozoglu/EPA/dpa-Bildfunk

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verweigert sich weiter der Realität. Nachdem am Vortag erneut Hunderttausende gegen seine Politik und das gewaltsame Vorgehen der Polizei auf die Straße gegangen waren, erklärte der Regierungschef am Donnerstag, die Demonstranten wollten nur Chaos säen und auf diese Weise die anstehenden Kommunalwahlen beeinflussen. »Es sind Scharlatane, sie haben nichts mit Demokratie zu tun, sie glauben nicht an Wahlen«, sagte Erdogan der Nachrichtenagentur Reuters zufolge bei der Eröffnung einer U-Bahn-Linie in Ankara.

In der Nacht zuvor war es erneut zu Straßenschlachten zwischen Regierungsgegnern und der Polizei gekommen. Auseinandersetzungen wurden aus Istanbul, Ankara, Izmir, Mersin, Dersim, Adana und Eskisehir gemeldet. Auslöser dieser größten Proteste seit Monaten war der Tod des 15jährigen Schülers Berkin Elvan. Er war während der Gezi-Park-Proteste im vergangenen Juni in Istanbul von einer Tränengasgranate der Polizei getroffen worden und lag seither im Koma. Am Dienstag starb er. An der Trauerfeier für Elvan nahmen am Mittwoch in der Istanbuler Innenstadt Medienangaben zufolge bis zu 100000 Menschen teil.

In seinem bislang einzigen Kommentar zum Tod Elvans hatte Erdogan am Mittwoch nachmittag lediglich den durch die Ereignisse ausgelösten vorübergehenden Kurssturz an der Börse bedauert. Regierungsnahe Zeitungen und Samil Tayyar, ein Abgeordneter der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, übten sich in Verschwörungstheorien. Sie verbreiteten, daß die Maschinen, die Elvan künstlich am Leben erhalten hatten, absichtlich kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März abgeschaltet worden seien, um die neue Protestwelle zu provozieren.

Wie AFP berichtete, erhob der Vater des getöteten Jungen schwere Vorwürfe gegen den Ministerpräsidenten. Erdogan habe die Einsatzbefehle an die Polizei gegeben, sagte Sami Elvan im Nachrichtensender CNN-Türk. Er habe zwar die Toten der Unruhen in Ägypten beklagt, schweige aber zum Tod seines Sohnes. Die Behörden verschleppten zudem die Suche nach dem Polizisten, der den Tod seines Kindes verschuldet habe, kritisierte Sami Elvan. Auch neun Monate danach sei nicht klar, wer auf den Jugendlichen gefeuert habe. Dabei könne Erdogan, wenn er wolle, innerhalb von einer Stunde den Schuldigen ausfindig machen.

Am Mittwoch abend war es Tausenden Demonstranten gelungen, zum Taksim im Zentrum von Istanbul vorzudringen, um dort nach der Beisetzung Elvans auch am Ort der tödlichen Schüsse auf den Jugendlichen zu demonstrieren. Die Polizei hatte zuvor jede Versammlung auf dem symbolträchtigen Platz untersagt und mit einem Großaufgebot versucht, die Zufahrtswege zu blockieren. Zahlreiche Demonstranten und Passanten erlitten dabei zum Teil schwere Verletzungen durch Plastikgeschosse, Gasgranaten und den scharfen Strahl der Wasserwerfer. Offenbar als Reaktion darauf wurde im Stadtviertel Sisli ein Wahlbüro der AKP in Brand gesetzt.

Im Istanbuler Bezirk Okmeydani, wo Berkin Elvan lebte, kam es in der Nacht zum Donnerstag zu einer Schießerei zwischen linken Demonstranten und mutmaßlichen Unterstützern der faschistischen »Grauen Wölfe«. Dabei wurde ein junger Mann getötet, der laut Medienberichten Anhänger der Partei der Nationalen Bewegung (MHP) gewesen sein soll. In der kurdischen Stadt Dersim starb ein 30jähriger Polizist an einem Herzinfarkt, nachdem das von der Polizei eingesetzte Reizgas in sein gepanzertes Einsatzfahrzeug eingedrungen war.

Nick Brauns
14. März 2014
Quelle: jungewelt.de