Noam Chomsky über die Widerstandsbewegung vom Taksim Gezi Park

Was momentan in den Straßen von Istanbul und anderen türkischen Städten passiert, ist erst einmal ein inspirierendes Beispiel dafür, wozu ein Volk im Stande ist, Unterdrückung, Gewalt und weitreichende Pläne zu bekämpfen, die darauf abzielen, das gute menschliche (Über-­‐)Leben den Interessen der Wirtschaft und Konzernstrukturen unterzuordnen.

Was gegenwärtig in der Türkei passiert, ist auch vor dem Hintergrund der Rolle der Türkei in der Region von besonders hoher Bedeutung, denn hier ist sie das einflussreichste Land. Was in der Türkei passiert, wird einen großen Einfluss haben – und schon jetzt ist dieser Einfluss im Osten und im Westen spürbar.

Die Ereignisse in der Türkei sind Teil eines großen internationalen Aufstands gegen den neoliberalen Angriff auf die Völker der Erde, der schon eine Generation lang andauert. Dieser Aufstand nimmt an verschiedenen Orten der Welt verschiedene Formen an, aber er passiert überall.

Am Anfang des neuen Jahrtausends entzog sich Lateinamerika – nach vielen Jahren des Kampfes – faktisch aus der Dominanz des Westens und vor allem der USA und entwickelt sich seither in eine Richtung der Unabhängigkeit.

Einige Länder weigerten sich, die ungerechten Schulden und Zinszahlungen, die ihnen auferlegt wurden, zu bezahlen. Andere Länder im nordafrikanischen Raum versuchten sich auf anderen Wegen von den neoliberalen Fesseln zu befreien, die Wachstum und Entwicklung in ihren Ländern verhinderten und ihren Bevölkerungen enorme Bürden auflasteten.

Der Arabische Frühling, der sich heute in einer Art Wartezeit befindet, folgte demselben Kurs. Er verkörperte ebenfalls eine starke Reaktion auf die Auswirkungen von Wirtschaftsprogrammen, die ihnen von internationalen Finanzinstitutionen und westlichen Mächten im Allgemeinen und den lokalen Regierungen und Diktatoren auferlegt wurden. Wie die Entwicklungen hier weitergehen werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

Die Türkei reiht sich nun ein in ähnliche Entwicklungen in ganz Europa. Diese sind besonders stark in Griechenland und auch in Spanien zu beobachten – und auch hier in den USA, z.B. im Rahmen des Volksaufstands in Wisconsin und der Occupy-­‐Bewegung im Zuchotti-­‐Park in New York.

Die Wirtschaftspolitik der vergangenen Generation, die für eine winzige Minderheit des konzentrierten Wohlstands äußerst profitabel war, hat verheerende Auswirkungen auf die allgemeinen Bevölkerungen in den Ländern der Erde gehabt.

Die Türkei hat sich in den letzten Jahren auf schreckliche Weise zurückentwickelt. Die 1990er Jahre waren vollkommener Horror. Zwar gab es in der ersten Hälfte der 2000er Jahre einige bemerkenswerte Verbesserungen; doch besteht der Rückschritt zum Beispiel darin, dass in der Türkei mehr Journalisten in Gefängnissen sitzen als irgendwo anders auf der Welt und dass die Opposition hier auch anders stark unterdrückt wird.

Die Bevölkerung ist jetzt gegen diese Zustände aufgestanden. Die unmittelbaren Ursachen dieses Aufstands sind in der Zerstörung des letzten öffentlichen Raumes im Zentrum von Istanbul im Interesse einer (historischen) Militäreinrichtung, einer Moschee, der Kommerzialisierung,

Gentrifizierung und Zerstörung des traditionellen Charakters der Stadt zu sehen. Im Laufe der Entwicklungen hat sich der Widerstand jedoch auf größere Fragen verschoben.

Für die internationale Community, diejenigen, denen die Menschenrechte, Gerechtigkeit, Freiheit und das Allgemeinwohl der Menschen am Herzen liegen, sollte dies ein Anlass sein, die aufstehenden Menschen in der Türkei zu unterstützen und sich mit ihnen solidarisch zu erklären.

Glücklicherweise gibt es jetzt schon Solidaritätsaktionen überall auf der Welt; und zugleich sind die Ereignisse in der Türkei eine Inspiration für unsere eigenen Kämpfe. Dieser Kampf ist ein internationaler. Wir sind dazu aufgefordert, uns gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam zu handeln.

Für die Großmächte, die dieses System errichtet haben, das auch Europa langsam zerstört und seine schlimme Wirkung auch in den USA entfaltet, sollte die weltweiten Ereignisse eine Warnung sein, ihnen zeigen, dass sie ihre Wirtschaftspolitik ändern müssen und ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bedürfnisse und Interessen der Allgemeinbevölkerungen zu richten haben – und nicht bloß auf den kleinen Teil der Konzernmacht und der konzentrierten Vermögen.

Die Ereignisse in der Türkei sind selbst ein Hoffnungsstrahl der Veränderung. Sie verdienen unsere volle Unterstützung. Man kann den Menschen, die an vorderster Front kämpfen, nur die eigene Bewunderung aussprechen und hoffen, dass sie in ihrem gerechten und entscheidenden Kampf Erfolg haben werden.

Taksim ist überall, der Widerstand ist überall!

Noam Chomsky (Prof. em. am Fachbereich Linguistik und Philosophy des Massachusetts Institute of Technology, USA)